Ariane Handrock, Berliner Zeitung

Mar 31, 20225 min

Sie überlebten die Zwangsarbeit in Deutschland, jetzt trifft sie Putins Krieg

Updated: Aug 24, 2022

Millionen Ukrainer mussten in Deutschland Zwangsarbeit leisten. Auch in der Familie unserer Autorin. Die Überlebenden sind alt – und dem Krieg ausgeliefert.

Ein älterer Mann vor einem zerstörten Wohngebäude in Kiew (Symbolbild). Millionen Ukrainer mussten in ihrer Jugend in Deutschland Zwangsarbeit leisten. [AP/Vadim Ghirda]

Bomben zerschmettern in der Ukraine Häuser, verwunden und töten Menschen, und trotzdem können sie nicht davor fliehen: hochbetagte Überlebende der NS-Zwangsarbeit. Einige davon traf ich gemeinsam mit einer Gruppe von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste 1993 in Sumy. Sie berichteten uns von ihren Gebrechen, einschließlich deformierter und amputierter Gliedmaßen – Folgen ihrer Knechtschaft. Ukrainische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen halfen während des Zweiten Weltkriegs vielen Deutschen zu überleben, auch meiner Familie.

In Udersleben, heute ein Ortsteil von Bad Frankenhausen im Kyffhäusergebirge, arbeiteten ukrainische und polnische Zwangsarbeiter auf Bauernhöfen. Auch auf dem Hof meines Großonkels Wilhelm. Ab 1940 waren es zwei polnische Soldaten, der Bauer Adam und sein Kumpel Jan. 1943 kam die ukrainische Rotarmistin Fenja und ab 1944 ihr Kamerad, der 18-jährige Kolja, hinzu. Die vier lernten Wilhelm nie kennen: Die Dorfbauernschaft hatte 1940 darüber abgestimmt, den Junggesellen als ihren Repräsentanten an die Front zu senden. In einem Kriegsgefangenenlager im Kaukasus starb er dann.

Die Landarbeiter, die ihm beim Bestellen seiner Felder geholfen hatten, mussten auch am großen Völkerkrieg teilnehmen; ebenso mein Großvater in Halle. Seine Hausfrau zog daher zurück in ihr Elternhaus, um es bis zur erhofften Rückkehr ihres Bruders zu verwalten. Das fiel der Mutter eines Kleinkindes trotz emsiger Landarbeiterinnen im Dorf sehr schwer. Denn die Wehrmacht hatte die kräftigen sächsisch-thüringischen Kaltblüter der Familie requiriert. Ab sofort sollten sie Waffen transportieren. Ein Einzelfall? Keineswegs! Im „Forum der Wehrmacht“ berichtete der User „Imkermichel“ 2009 über seine Großeltern: „Sie mussten 1940 alle Pferde abgeben. Diese wurden zentral gesammelt und per Zug abtransportiert.“

Harte Arbeit in der deutschen Landwirtschaft

„Die armen Tiere! Was ihnen wohl passiert ist?“, seufzte meine Oma oft noch Jahrzehnte später. Das Geld, das sie damals für sie erhielt, ersetzte nicht ihren Verlust: „Im Märzen die Bäuerin sich selbst anspannt ... Sie pflüget den Boden, sie egget ...“ Diesen Inhalt hätte das bekannte deutschsprachige Volkslied beinahe für sie bekommen. Doch dann schickte ihr eine Behörde nacheinander die vier osteuropäischen Kriegsgefangenen, um für sie zu arbeiten. So zerrten nicht meine Oma und ihre Landarbeiterinnen Egge und Pflug hinter sich her, sondern zunächst Adam und Jan, später auch Kolja, ein schüchterner Junge mit Silberblick. Die resolute Fenja unterstützte meine Großmutter in der Hauswirtschaft. Meine Oma als Chefin produzierte Landwirtschaftsprodukte nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Menschen.

Nur durch die harte Arbeit von Adam, Jan, Kolja und Fenja schaffte sie das. Auch andernorts wurden wegen Arbeitskräftemangel deutschen Bauern, Gutsbesitzern sowie anderen Landwirtschaftsbetrieben Ukrainer und Ukrainerinnen zur Zwangsarbeit zugeteilt, laut verschiedenen Studien u. a. in Durbach (Baden-Württemberg), Mildenberg (Brandenburg), Mittenaar (Hessen), Remstädt (Thüringen) und Dörfern nahe Saarlouis (Saarland). Hundert Ukrainer, die laut Studienkreis Deutscher Widerstand im Juli 1942 von Bauern in Saarlouis abgeholt wurden, waren aus Rawa Ruska bei Lwow (Lwiw) dorthin deportiert worden. Denn die Anzahl der ab 1941 propagandistisch angeworbenen Freiwilligen, u. a. aus Kriwoj Rog (Krywyj Rih), Stalino (Donezk) und Charkow (Charkiw), reichten nicht aus, um leere Arbeitsplätze zu füllen.

Bei Krupp schufteten auch Sechsjährige

Die Besatzer wählten deshalb ab 1942 weitere Methoden: den Einsatz sowjetischer Kriegsgefangener sowie unfreiwilliger Zivilisten. Sie packten Straßenpassanten, Fest- und Gottesdienstteilnehmer, trieben sie zu Sammelstellen und verschleppten sie von dort nach Deutschland, so vermerkt das Bundesarchiv. Ab 1943 wurden dafür auch die bisherigen Altersbeschränkungen (Männer 15–65, Frauen 15–45 Jahre) sowie das Verbot, schwangere Frauen und Kinder zu deportieren, aufgehoben. Ganze Familien mit Kindern, manche jünger als vier Jahre, so aus dem Raum Tschernigow (Tschernihiw), wurden verschleppt. Nicht nur Erwachsene und Jugendliche arbeiteten: Laut Ludwig-Maximilians-Universität München schufteten im Rüstungskonzern Krupp bereits Sechsjährige.

Durften Schwangere vor dem 27. Juli 1943 zur Geburt noch in ihre Heimat zurückkehren, war das danach nicht mehr möglich. Gebaren sie auf Bauernhöfen, konnten sie meist ihre Kinder behalten. Arbeiteten sie dagegen in der Industrie, wurden an ihnen Zwangsabtreibungen durchgeführt oder man nahm ihnen die Kinder weg. Sehr wenige „arisch“ aussehende Babys wurden von NS-Kinderheimen aufgenommen oder gesinnungstreuen Eltern adoptiert. Die meisten von ihnen aber kamen in „Ausländerkinder-Pflegestätten“, wo sie mehrheitlich unterernährt und krank starben. Insgesamt leisteten ca. drei Millionen sowjetische Zivilisten in Deutschland Zwangsarbeit, die meisten davon ukrainische Frauen.

Ab 1943 leisteten auch bis dahin gefangen gehaltene Rotarmistinnen, die u. a. als Pilotinnen, Scharfschützinnen, Funkerinnen und Sanitäterinnen ihre Heimat verteidigt hatten, Zwangsarbeit. Solche wie „unsere“ Fenja, die unfreiwillig für meine Oma ins Zivilleben zurückkehrte. Aufgestellte Sofakissen fand sie nur mit einem gepufften Knick in der Mitte schick. Damit beeindruckte sie offensichtlich meine Mutter, denn auch ihre eigenen Sofakissen sahen später manchmal so aus.

Für die Polen Adam und Jan war die Arbeit in meiner Familie bitter nötig: Sie suchten damit dem Hunger im Kriegsgefangenenlager zu entfliehen. Sie hatten gehört, dass das Essen in der deutschen Landwirtschaft besser wäre. Als einer der Aufseher alle Bauern im Lager dazu aufforderte, sich für die Arbeit in Deutschland zu melden, überredete Adam Jan, sich als einer auszugeben. So kamen beide zu meiner Großmutter. Das erzählte Adam ihr, als er dafür ausreichend Deutsch gelernt hatte. Ob Fenja und Kolja Ähnliches erlebten? Sie redeten nicht darüber.

Über „unsere“ Kriegsgefangenen habe ich von meiner Oma und Mutter das und sonst nur Gutes gehört: Liebe Menschen und fleißige Arbeiter wären sie gewesen. Adam, der seine Kinder daheim in Polen vermisste, bevaterte meine Mutter. Oft übernachtete sie bei ihm und seinen Gefährten auf dem Heuboden. Oma schlief dagegen in ihrem Bett. Gegessen haben sie gemeinsam in der Stube an einem Tisch dieselben Mahlzeiten: die Arbeitgeberin, ihre kleine Tochter und ihre zwei polnischen und ukrainischen Mitarbeiter. Bis die staatliche Kontrolle kam.

Gemeinsam aus einer Schüssel essen? Verboten!

Großmutter saß Schmiere: Durchs Fenster sah sie beim Essen jeden, der durchs Hoftor hereinkam. Waren es Behördenmitarbeiter, stürzten Adam, Jan, Fenja und Kolja mit ihren Tellern in die Küche, während die Bäuerin im Wohnzimmer die unerwünschten Gäste empfing. Sie fragten nach den Zwangsarbeitern: „Wo essen sie?“ „In der Küche, und wir essen in der Stube“, log Oma. „Die können auch bei den Schweinen essen!“, entgegnete einer der Kontrolleure. Diese Geschichte erzählte mir Großmutter wiederholt und kommentierte empört: „Stell dir das mal vor! Diese Dreckschweine!"

Sie wusste, warum sie die Gemeinschaft mit ihren Hausgenossen verheimlicht hatte: Gemeinsam unter einem Dach übernachten? Verboten! Gemeinsam aus einer Schüssel essen? Verboten! Miteinander über andere Themen als die Arbeit reden? Verboten! So bestimmten es die Gesetze: die Polenerlasse (8.3.1940) und die Ostarbeitererlasse (29.2.1942). „Ostarbeiter“, wie sowjetische Bürger definiert wurden, standen auf der untersten Hierarchiestufe der Zwangsarbeiter, unmittelbar hinter den Polen.

Offensichtlich um Mitgefühl und kritischen Geist bei Deutschen zu verhindern, war ihnen und diesen Zwangsarbeitern jeder Kontakt miteinander jenseits der Arbeit verboten. „Ostarbeiter“ und Polen durften daher mit Deutschen zusammen u. a. weder Kirche noch Kino noch Kneipe besuchen, noch öffentliche Verkehrsmittel benutzen, noch essen oder rauchen. Um das befohlene Social Distancing dauerhaft durchzusetzen, mussten sie durch einen farbigen Aufnäher, „Ost“ bzw. „P“, öffentlich markiert sein. Außerdem wurden diese Zwangsarbeiter sowie Deutsche wegen Regelverstößen auf verschiedene Arten bestraft; Geldbuße sowie Haft in einem Arbeitserziehungslager oder KZ gehörten dazu.

Post von Adam nach dem Ende des Krieges

Idyllisch war daher das Zusammenleben meiner Oma und Mutter mit „ihren“ Zwangsarbeitern ebenso wenig wie für weitere abweichlerische Bauernfamilien, die inzwischen durch Zeitzeugenberichte bekannt wurden. Schlimmer war es, wenn gesetzestreue Landwirte ihre ukrainischen Mitarbeiter auch noch schlugen, wie zwei in Hüfingen (Baden-Württemberg).

Dabei waren diese in der Landwirtschaft unverzichtbar. Das galt nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch im ukrainischen Besatzungsgebiet. Denn von der Wehrmacht bewachte ukrainische Zwangsarbeiter säten und mähten den einheimischen Weizen. Um seinen möglichen Kriegsverlust brauchten Deutsche damals nicht zu fürchten: Verbraucht wurde er überwiegend von den deutschen Okkupanten sowie von der Bevölkerung im Reich. Das trug zum Überleben vieler Deutscher während des Krieges bei.

Nach seinem Ende erhielt meine Oma Post von Adam aus Polen: Er und Jan waren gut daheim angekommen. Von den Ukrainern Fenja und Kolja hat sie nie wieder gehört.

Leben sie noch? Falls ja, dann wären sie inzwischen über 90 Jahre alt – so alt wie viele andere Ukrainer und Ukrainerinnen, die als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland oder in der Ukraine Zwangsarbeit leisteten. Dass viele von ihnen dadurch Gesundheitsschäden erlitten, erklärt sich aus der Geschichte. Zu schwach zum Fliehen fehlt es ihnen am Nötigsten. Lebte meine Oma noch, würde sie deshalb wohl sagen: „Fenja und Kolja – die Armen! Wie es ihnen und ihren Familien wohl geht?"


(c) 2022, Berliner Zeitung

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