Aserbaidschan und Armenien im Krieg: Sie wollen bleiben
In Armenien, nahe der Grenze zu Aserbaidschan, leiden Bewohner unter den Angriffen des Nachbarlands. Dennoch wollen sie nicht gehen. Ein Ortsbesuch.
Vor Bergen mit schneebefleckter Kappe, zwischen dürren Bäumen und bräunlichen Wiesen leuchten rote Dächer. Wellblech über Steinhäusern, wie fabrikneu stechen sie heraus zwischen den restlichen Dächern, grau und rostig. „An den roten Dächern erkennt man, welche Häuser nach dem Angriff renoviert werden mussten“, sagt Sevak Khachatryan, kurz geschnittene Haare, dichter Bart, von Sorgenfalten durchzogene Stirn. Er ist der Gemeindevorsteher von Sotk, einem Dorf im Osten Armeniens, ganz nahe der Grenze zu Aserbaidschan.
In der Nacht vom 12. auf den 13. September 2022, kurz nach Mitternacht, beginnt eine aserbaidschanische Offensive gegen Sotk. In der Sowjetunion entwickelte Grad-Raketen und Haubitzen schlagen ein, Menschen werden verletzt, das Dorf wird evakuiert. Die Truppen Aserbaidschans stehen da schon lange auf armenischem Gebiet, in den Bergen oberhalb des Dorfes.
Im Frühsommer 2021 marschierten sie mehrere Kilometer tief in die Provinz Gegharkunik, in der Sotk liegt, und Syunik im Süden ein. „Das Dorf ist im Tal, ihre Stellungen sind oben“, erzählt Khachatryan und deutet in Richtung der Berge. Das aserbaidschanische Militär sieht, was in Sotk vor sich geht, aber nicht umgekehrt.
Im Frühling 2023, ein paar Monate nach dem Angriff, sind die meisten Bewohnerinnen und Bewohner in das Dorf zurückgekehrt, bauen ihre Häuser, ihr Leben, wieder auf – und warten auf den nächsten Angriff Aserbaidschans.
In direkter Schusslinie
Khachatryan kann einen Teil seines Landes nur noch aus der Ferne beobachten, so wie viele aus dem Dorf. Als Aserbaidschan im September 2022 angreift, hat gerade die Saison für Kartoffeln begonnen. Nur etwa 30 Prozent seiner Ernte habe er einholen können, erzählt er. In der Erde stecken unexplodierte Raketen, nach dem Ende des Angriffs schickt das armenische Militär Spezialisten, um sie einzuholen.
Die aserbaidschanischen Soldaten behinderten die Arbeit, sagt Khachatryan. Auch die Samen für das neue Jahr – der Weizen wird reif im Sommer, die Kartoffeln sind im Herbst reif – habe er daher nur zu einem Teil aussäen können. Jederzeit, sagt er, könnten sie ihn und die anderen Bauern verwunden. „Unsere Felder liegen direkt in ihrer Schusslinie, mein eigenes ist nur etwa 600 Meter von den Stellungen der aserbaidschanischen Soldaten entfernt.“
Nach dem letzten Angriff sind etwa hundert Bewohner nicht mehr in das Dorf zurückgekehrt. Khachatryan befürchtet, dass es noch mehr werden: „Viele haben ihr Einkommen verloren“, erzählt er, durch die Behinderung der Landwirtschaft. Etwa zwanzig Landmaschinen seien bei dem Angriff zerstört, Vieh in den Scheuen getötet worden, das Heu, Futter für die Tiere im Winter, sei auf den Feldern verrottet.
Von den Raketen im Herbst sind auch das Gebäude der Gemeindeverwaltung und die Schule des Dorfes betroffen. Dass keine Kinder verletzt oder getötet werden, sagt er, verdanke man der Uhrzeit des Angriffs tief in der Nacht. In einem Zimmer der Gemeindeverwaltung steht eine blecherne Wanne. Sie fängt das Wasser, das von der Decke tropft. Das Dach sei noch nicht repariert, sagt er entschuldigend.
Das angestammte Land
Nicht nur die Verwaltung und die Schule seien zum Ziel gemacht worden, sondern auch die restliche Infrastruktur des Dorfes: die Gaspipeline und das Stromnetz. Allein das wiederherzustellen habe etwa zehn Tage gedauert, sagt Khachatryan. Auf einem Tisch inmitten des Raumes liegen die Überreste eines explodierten Sprengkopfes, eine Erinnerung: Die Sicherheit, in der man sich gut wiegen kann an diesem Tag unter warmer Sonne und blauem Himmel in der Ruhe eines Dorfes inmitten sanft ansteigender Berge, ist trügerisch.
Sotk verlassen will Khachatryan trotzdem nicht. Er hat Geschichte in der Hauptstadt Jerewan studiert, trotzdem ist er zurückgekehrt in seine Heimat, das Dorf seiner Eltern. „Das ist unser Zuhause, unser Land. Unsere Vorfahren lebten hier seit Tausenden von Jahren. In Sotk haben wir eine Kirche aus dem siebten Jahrhundert – vielleicht haben meine Vorväter sie gebaut.“
Auch ein roter Stein, in den ein Relief gemeißelt ist – Pferde, Sonnen, eine landwirtschaftliche Szene – und der ganz unzeremoniell vor dem Verwaltungsgebäude steht, belege das, sagt er. Er wurde nahe dem Dorf gefunden, Forscher hätten ihn der armenischen Kultur zugeordnet und ihn datiert: Schon vor 2.500 Jahren lebten hier Armenier – keine Aserbaidschaner.
„Türken“, nennt Khachatryan sie. „Ein Volk, zwei Staaten“, sagen viele Aserbaidschaner und Türken selbst, etwa der aserbaidschanische Verteidigungsminister im vergangenen Jahr. In der Mitte der beiden Brudervölker liegt Armenien, eingeklemmt zwischen dem von Präsident und De-facto-Diktator Ilham Aliyev beherrschten Aserbaidschan im Osten und der Türkei im Westen. Immer wieder spricht Aliyev von „Westaserbaidschan“ und meint damit Armenien. Die Grenzen zu Armenien halten die beiden Länder fest geschlossen, auch Verhandlungen konnten daran bisher nichts ändern.
Neue Spielplätze made in Russia
Ein Schild zu passieren, auf dem in weißen Lettern auf blauem Grund prangt „Achtung! Sie betreten das Territorium der Republik Aserbaidschan“ ist dennoch möglich, ganz im Süden des Landes, etwa fünf Stunden Autofahrt von Sotk entfernt. Die aserbaidschanische Armee soll es eines Nachts aufgestellt haben, der Fleck Boden, auf dem es steht, gehört aber noch zu Armenien. In dem hügeligen Gebiet ist der Verlauf der Grenzen nicht immer klar.
Die früher einmal festgelegten Linien – vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als Armenien noch die Armenische Sozialistische Sowjetrepublik und Aserbaidschan noch die Aserbaidschanische war – gelten nicht mehr, seitdem Aserbaidschan im September 2020 seinen Nachbarn angriff. 44 Tage dauerte der Krieg, danach hatte Armenien laut Waffenstillstandsabkommen die Kontrolle über sieben Regionen rund um die armenisch besiedelte, von Aserbaidschan umklammerte Enklave Bergkarabach verloren.
Einige Minuten Fahrtzeit hinter dem Schild liegt Shurnukh. Das Dorf ist geteilt. Die untere Hälfte, den Hang hinunter gelegen, ist zerstört: Zwischen entkernten, verrußten Häusergerippen steigt dünner Rauch auf, ein uniformierter aserbaidschanischer Soldat und ein Mann in Zivilkleidung stiefeln in dicker Kleidung durch den kalten Nebel, der das Dorf langsam einhüllt. Über den Ruinen fliegt die Fahne Aserbaidschans – Rot, Grün, Blau, ein Halbmond, ein Stern.
Die obere Hälfte auf dem Gipfel des Hügels ist lebendiger: Zwischen parkenden Autos und den Wegrand säumendem Gras wedeln freundliche Hunde mit dem Schwanz, ein neuer Spielplatz – gebaut mit Geldern der russischen Föderation – wartet auf Kinder.
Das geteilte Dorf
An einem Fahnenmast hoch hinaufgezogen, sichtbar trotz des immer dicker werdenden Nebels, weht die Fahne Armeniens: Rot, Blau, Orange, und in der Mitte – nicht offiziell Teil der Flagge, aber auf dieser hell über die bunten Streifen gedruckt – ein Kreuz. Mehr als 90 Prozent der Armenierinnen und Armenier bekennen sich zum christlichen Glauben. In Aserbaidschan ist die Mehrheit muslimisch.
Auf der Straße, die das Dorf teilt, patrouillieren sie: russische Friedenstruppen, die blau-weiß-rote Fahne an der Tarnkleidung, dick eingepackt mit Schutzhelm und Balaklava-Mützen, die nur die Augen freilassen. Ohne ihre Zustimmung, und ohne ihre Kontrolle der Ausweisdokumente, darf die Straße nicht passiert und damit auch das Dorf nicht betreten werden.
Oben auf dem Hügel steht Ararat Aghabekyan mit faltendurchzogenem Gesicht im kalten, nassen Nebel, in Tarnweste und dicker Strickjacke. Er kramt eine Zigarettenpackung hervor, unter seiner ausgestreckten Hand stupst einer der Dorfhunde nach Aufmerksamkeit. Sein Haus, oder was davon übrig ist, liegt im unteren Teil des Dorfes.
Eines Morgens im Januar 2021, erzählt er, seien aserbaidschanische Soldaten in das Dorf gekommen. Sie hätten ihm eine Karte gezeigt, die belegen sollte, dass der untere Teil des Ortes bereits auf aserbaidschanischem Staatsgebiet liege. Innerhalb eines Tages hätten er, seine Familie und die Nachbarn ihre Heimat verlassen müssen. Er sei der Letzte gewesen, der den unteren Teil des Dorfes verlassen habe, erzählt Aghabekyan. Auch einen Teil seiner Felder darf Aghabekyan, der Bauer ist, seitdem nicht mehr betreten.
Wer muss hier Angst haben?
Bevor er aufbricht, steckt er sein Haus in Brand. Lieber so, als dass es den Aserbaidschanern in die Hände fällt.
Die untere Hälfte des Dorfes neu besiedeln wollten die aber ohnehin nicht, meint Aghabekyan. „Sie reißen alles ab, verbrennen, was noch übrig ist, bis nur noch Asche bleibt. Sie wollen sicherstellen, dass nichts mehr darauf hinweist, dass hier einmal Armenier gelebt haben.“
Seine Familie lebt nun in der Kleinstadt Goris, so wie mindestens fünf andere Familien des Dorfes. Aghabekyan sieht sie nur selten. Vor dem Vorrücken der aserbaidschanischen Armee habe man mit dem Auto etwa eine halbe Stunde nach Goris gebraucht. Nun sind einige Straßen blockiert, die Strecke ist doppelt so lang, die Fahrtzeit dauert dreimal länger.
Sein Dorf will er dennoch nicht aufgeben: Wenn einer komme und einem anderen sein Land wegnehme, lebe der Angreifer in Angst, nicht der Angegriffene, sagt er. „Das ist mein Land. Ich habe nichts zu befürchten. Aber die Türken sollten sich fürchten. Weil sie auf dem Land unserer Vorfahren stehen.“ Und überhaupt: Wer sei denn dieser Aliyev? „Ein Hund, ein lausiger Hund.“
Auch die armenische Regierung glaubt daran, dass Shurnukh Bestand haben wird: Je weiter man den Hügel hinaufsteigt, desto weiter hinein begibt man sich in das Neubaugebiet, das hier entsteht. Sauber nebeneinander aufgereiht, neue Einfamilienhäuser: Eines ist fast fertiggestellt, die Mauern hochgezogen, das Dach gezimmert, die Fenster eingebaut, die Tür fehlt noch. Ein anderes ist noch im Rohbau, das Erdgeschoss steht schon, graue Ziegel, aus denen Metallstangen hervorragen.
Streubomben zwischen den heißen Quellen
Die Bauarbeiten ziehen sich hin: Die Straßenverhältnisse sind schlecht, enge Serpentinen über hohe Berge führen in das Dorf, und dass man es nur noch mit Genehmigung des armenischen Militärs und der russischen Friedenstruppen erreicht, macht die Lage nicht einfacher.
Eine Tafel wirbt für das Viertel: idyllisch mit Sonne beschienene Einfamilienhäuser inmitten grüner Gärten. Dreizehn neue Heime würden hier gebaut, erzählt Aghabekyan. Etwa 35 Haushalte leben in dem oberen Teil von Shurnukh, es gibt eine Schule, einen Kindergarten. Mindestens vier Familien, die ihre Häuser im unteren Teil verloren haben, seien bereits im oberen Teil angesiedelt worden, die anderen Vertriebenen warteten in Goris auf ihre Rückkehr.
Etwa auf halber Strecke zwischen Sotk und Shurnukh liegt Jermuk – ein bekannter Kurort, beliebt für seine heißen Quellen und das beliebte Mineralwasser, das selbst im Ausland erhältlich ist. Vor einer Seilbahn am Rand des Ortes steht Armen Tadevvosyan. Auch er trägt eine warme Jacke, vor ihm liegt eine detonierte aserbaidschanische Rakete.
Als Sotk angegriffen wird, wird auch Jermuk attackiert, im September 2022. Drei Tage dauert der Krieg. Allein rund um die Seilbahn, für deren Betrieb Tadevvosyan verantwortlich ist, seien etwa 40 Sprengkörper eingeschlagen – darunter auch die international geächteten Streubomben. Wie Päckchen fallen viele kleine Bomben zur Erde, explodieren gerne erst dann, wenn sie aufgehoben werden. Die armenische Armee habe ewig gebraucht, um das Land, den Wald rund um die Seilbahn davon zu befreien.
Am Tag bevor der Angriff begann, habe er 270 Gäste gehabt, erzählt er, die meisten von ihnen Senioren, die als Ökotouristen den Kurort erkunden. Die Hotels – gefühlt die halbe Stadt besteht aus ihnen – seien voll belegt gewesen, sagt er. Innerhalb eines Tages sind sie leer, evakuiert. Im Jahr 2023 seien nur noch etwa 10 Prozent der sonst üblichen Zahl an Touristen angereist. Die Menschen hätten Angst: Aserbaidschans Armee steht nah am Zentrum, bis zu 7 Kilometer tief auf armenischem Gebiet.
Konflikt auf stetiger Flamme
Einen Korridor wolle diese schaffen, glaubt Tadevvosyan: Von aserbaidschanischem Staatsgebiet nach Nakhichevan. Zwischen dem autonomen, von Aserbaidschanern besiedelten Gebiet und dem aserbaidschanischen Mutterland liegt Armenien. Schon lange fordern die Aserbaidschaner einen Korridor durch Armenien, der die beiden verbinden und außerhalb der Kontrolle des armenischen Staats liegen soll.
Tadevvosyan lässt nun die Seilbahn renovieren sowie in Jermuk zerborstene Fenster und Leitungen ersetzen – die nächste Sommersaison kommt trotz allem. Sein Land will er nicht verlassen. Gekämpft hat er noch nie, aber er sei bereit, sagt er, für seine Kinder und Enkelkinder.
Er und einige andere Männer der Stadt trainieren nun dafür mithilfe des armenischen Militärs, das ihnen Ausrüstung leiht und sie betreut. Armenien hat nur eine kleine Berufsarmee, die meisten, die kämpfen müssen, sind wehrpflichtige junge Männer. Fast alle Opfer in Jermuk, erzählt Tadevvosyan, seien solche jungen Männer gewesen, 18, 20 Jahre alt.
Vielleicht muss er sein Training bald in der Realität anwenden. Immer wieder kocht der Konflikt entlang der Grenze hoch: ein festgenommener Soldat hier, ein Schusswechsel dort. Zuletzt fallen am 11. Mai in Sotk Schüsse, die armenische Seite meldet vier, die aserbaidschanische Seite einen Toten und einen Verwundeten. Ein Ende der auf kleiner Flamme züngelnden Kämpfe ist nicht in Sicht.
Doch alle drei, Khachatryan aus Sotk, Aghabekyan in Shurnukh und Tadevosyan in Jermuk, glauben an die Zukunft ihrer Heimat. Erst neulich sei eine weitere Familie nach Sotk zurückgekehrt, sagt Khachatryan. Und auf einer Parzelle seines Landes, das auf der armenischen Seite liegt, hat Aghabekyan Obstbäume gepflanzt, eine Investition in die Zukunft. Sie werden viele Jahre lang Früchte tragen. Er ist sich sicher: Er wird da sein, um sie zu ernten.
(c) 2023, Taz
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