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Rebecca Barth, Tages Schau

Berichte über Folter in Cherson:"Ich habe jeden Tag Schreie gehört"

Vor etwa einer Woche zogen russische Truppen aus Cherson ab. Jetzt beginnen die Menschen zu erzählen: von Stromschlägen und Tritten, vermissten Verwandten und Schreien aus Folterkellern.

[Tages Schau]

Elf Folterstätten, 63 Tote mit Folterspuren, mehr als 430 Untersuchungen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen - das ist die vorläufige Bilanz von Untersuchungen ukrainischer Behörden in der Region Cherson. Vor etwa einer Woche eroberte die ukrainische Armee das Gebiet zurück.

Neun Monate lang hatten russische Besatzer hier die Macht. Und sie folterten mit System, sagt Dmytro Lubinetz, Ombudsmann für Menschenrechte dem ukrainischen Fernsehen:

"Dutzende Menschen wurden gefoltert. Sie wurden mit Strom malträtiert, mit Metallrohren geschlagen, ihre Knochen wurden gebrochen, und das alles geschah vor laufenden Kameras. Die Russen haben alles gefilmt."

Wahrscheinlich gibt es sogar einen Unterschied zu den Gebieten Charkiw und Kiew:

"Eine solche Größenordnung habe ich noch nicht gesehen, obwohl ich alle Folterzentren in verschiedenen Regionen der Ukraine besucht habe. Das Ausmaß ist erschreckend."

Schläge, Demütigungen, Scheinexekutionen

Und es erstreckt sich offenbar über die gesamte Region. In Zentralne, einem Dorf etwa 30 Kilometer nördlich von Cherson, lebt der 62-Jährige Wassily Bereschansky mit seiner Frau auf einem kleinen Hof. Auch er wurde von russischen Soldaten festgenommen und in eine Vorstadt Chersons gebracht.

Im Keller eines alten Bauernhofs habe man ihn drei Tage lang geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert, berichtet er der ARD:

"Sie haben uns eingeschüchtert. Um Mitternacht kamen sie und wir sollten ein Lied für sie singen. Dann durften wir schlafen. Aber nach 15 Minuten kam ein anderer und sagt: Warum schlaft ihr? Er geht wieder - und dann kommt wieder ein anderer und sagt: Warum schlaft ihr denn nicht? Sie haben uns psychisch gedemütigt."

Schläge, Demütigung, Scheinexekutionen - Foltermethoden, die Opfer schon in anderen Regionen der Ukraine erleiden mussten. Und auch in der Region Cherson sind sie keine Einzelfälle.


Die Augen verbunden, die Hände gefesselt

In einem weiteren Dorf einige Kilometer weiter südlich sitzt der 27-jährige Aljoscha Babenko vor seinem Wohnhaus. Die russischen Soldaten verhafteten ihn zusammen mit seinem 14-jährigen Neffen. Er habe zuvor Fotos von zerstörter russischer Militärtechnik gemacht und sie an die ukrainische Armee geschickt, sagt Babenko der Nachrichtenagentur AP.


"Manchmal gaben sie uns Elektroschocks, auf verschiedene Arten, manchmal bedrohten sie uns mit Gewehren", erzählt er. "Sie sagten sogar, sie würden uns zwingen, auf ein Minenfeld in Richtung der ukrainischen Stellungen zu laufen."


Der Schrecken der zehntägigen Haft steht Babenko noch immer ins Gesicht geschrieben. In den Videoaufnahmen wirkt sein Blick starr - die Finger fummeln nervös. Er sei nach Cherson gebracht worden. Doch wohin genau, das wisse er nicht. Seine Augen seien verbunden, die Hände gefesselt gewesen.


Laute Schreie

Vielleicht wurde Aljoscha Babenko in den Zellen der einer Chersoner Polizeistation festgehalten. Viele Menschen sollen hier gefoltert worden sein. Auch ein Mann, der sich als Maksim vorstellt und schon im Donbass für die Ukraine gekämpft hat. Genau das wurde ihm unter russischer Besatzung zum Verhängnis:

"Wissen Sie, was das Schlimmste war? Ich konnte den ganzen Tag über hören, wie die anderen gefoltert wurden. Das waren entsetzliche Schreie. Für mich persönlich war das das Schrecklichste."
Dunkelgrün: Vormarsch der russischen Armee. Schraffiert: Von Russland annektierte Gebiete. [ISW/18.11.2022]

Es waren Schreie, die so laut waren, dass sie auch Anwohner hören konnten. Unweit der Polizeistation befindet sich ein Hochhaus. Hier wohnt Mykola Iwanowitsch im siebten Stock. Von dort habe er den ganzen Hof überblicken und alles hören können, sagt er der ARD:

"Die ganze Nacht hindurch hörten wir Schreie. Es wurde geprügelt und geschrien, Tag und Nacht. Und dann, irgendwann, haben sie zwei Leichen rausgetragen, eingewickelt in Zellophan. Sie haben sie in den Müll geworfen. Am nächsten Tag kam ein Auto und hat den Müll weggebracht."

Mindestens zwei Fälle dokumentiert

Überprüfen lassen sich diese Aussagen nicht. Doch schon im Juli hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) mindestens zwei Fälle dokumentiert, in denen Männer aus Cherson von russischen Soldaten zu Tode gefoltert wurden. Zivilisten hätten unter russischer Herrschaft kaum eine Möglichkeit, sich vor Verhaftungen zu schützen.


Man habe Fälle dokumentiert, in denen die Menschen in der Bahn oder im Supermarkt verhaftet und verschleppt worden seien, sagte die HRW-Forscherin Julia Gorbunowa damals der ARD:

"Wir sprechen von völliger Gesetzlosigkeit, einer Atmosphäre der Angst, die die russischen Streitkräfte in den besetzten Gebieten zu schaffen versuchen. Das ist eine Taktik, um sicherzustellen, dass die Leute Angst haben und nicht aus der Reihe tanzen, sich ruhig verhalten."

Viele vermissen ihre Verwandte seit Monaten

Folter ist weit verbreitet in den russisch besetzten Gebieten - von dieser These gingen die Menschenrechtler von Human Rights Watch schon vor Monaten aus. Nun beginnen die Untersuchungen in den Teilen, die wieder unter ukrainischer Kontrolle sind.


Doch es wird schwierig, jedes Schicksal aufzuklären. Viele Menschen in Cherson vermissen ihre Verwandten bereits seit Monaten. Sie seien weiter südlich, auf die Krim oder nach Russland verschleppt worden. Die Menschen hoffen, dass ihre Verwandten noch am Leben sind.


 

(c) 2022, Tages Schau

https://www.tagesschau.de/ausland/ukraine-cherson-123.html

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