Eine menschengemachte Katastrophe – und ein Genozid?
In den 1930ern verhungerten in der ukrainischen Sowjetrepublik Millionen Menschen. Der Bundestag hat den Holodomor nun als Genozid eingestuft. Warum das umstritten ist.
Der Bundestag hat die Hungersnot in der ukrainischen Sowjetrepublik in den Jahren 1932 und 1933 als Völkermord anerkannt. Was den sogenannten Holodomor auslöste und wie Historikerinnen auf die Ereignisse blicken:
Was war der Holodomor?
Das ukrainische Wort Holodomor bedeutet "Tötung durch Hunger" und bezieht sich auf die Hungersnot der Jahre 1932 und 1933 in der ukrainischen Sowjetrepublik, die im Wesentlichen durch Josef Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, unerfüllbar hohe Abgabequoten und die Verfolgung der als Kulaken bezeichneten Großbauern ausgelöst wurde. Etwa 3,9 Millionen Menschen starben während der Hungersnot, hinzu kamen Hunderttausende ausbleibende Geburten. Historikerinnen und Historiker sprechen von einer "menschengemachten Katastrophe". Der gewaltsame Umbau der Landwirtschaft in der Sowjetunion hatte 1929 begonnen, die Landwirtschaft wurde in sogenannten Kolchosen, staatlichen Kollektivbetrieben, organisiert. Nach einer zunächst guten Ernte im Jahr 1930 zeichneten sich im darauffolgenden Jahr die katastrophalen Auswirkungen von Stalins "Revolution von oben" ab. Trotz aller Anzeichen für eine dramatische Missernte versuchten die Beschaffungskommandos in den Sowjetrepubliken weiterhin, die hohen Abgabevorgaben aus Moskau zu erfüllen und beschlagnahmten zu diesem Zweck teilweise auch Saatgut und Futtergetreide.
Hintergrund der hohen Abgabequoten war, wie der Osteuropahistoriker Robert Kindler schreibt, auch das Ziel der Verantwortlichen in Moskau, einen erheblichen Teil der Ernte ins Ausland zu exportieren – mit den Einnahmen sollte das ambitionierte sowjetische Industrialisierungsprogramm finanziert werden. Das Leben der sowjetischen Landbevölkerung wurde diesem Ziel untergeordnet.
Betroffen war davon nicht nur die Ukraine. Auch im Nordkaukasus, im Wolgagebiet und in der kasachischen Sowjetrepublik gab es verheerende Hungersnöte; in Kasachstan starb dabei ein Viertel der Bevölkerung.
Dass die Abgabequoten trotz aller Rigidität der Funktionäre nicht erreicht werden konnten, führten die Bolschewiki auf angebliche Sabotage durch die Bauern zurück. Ab 1932 überzogen die Bolschewiki die Landbevölkerung in den sowjetischen Regionen mit Terror: Sie nahmen Familien ihre letzten Lebensmittel, riegelten ganze Gebiete ab und unterbanden gewaltsam Fluchtbewegungen vom Land in die Städte.
In der ukrainischen Sowjetrepublik war das Ausmaß des stalinistischen Terrors gegen die Bevölkerung besonders gravierend. Der Historikerin Anne Applebaum zufolge befürchtete Stalin angesichts von Widerständen gegen die Kollektivierungspolitik im ukrainischen kommunistischen Parteiapparat, die Ukraine für das sowjetische Projekt zu verlieren. Ab 1932 ordnete Stalin Säuberungen im ukrainischen Parteiapparat und eine Verfolgung angeblicher ukrainischer Nationalisten an. Applebaum bezeichnet dieses Vorgehen in ihrem Buch Roter Hunger als Stalins "Krieg gegen die Ukraine". Von den Verhaftungen, Massenentlassungen und Todesurteilen in den Jahren 1932 und 1933 waren zahlreiche ukrainische Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler, Lehrer und Wissenschaftler betroffen.
Welche Bedeutung hat die Hungersnot in der ukrainischen Geschichtspolitik?
In der Sowjetunion wurde die Erinnerung an den Holodomor zensiert. "Selbst während des sogenannten Tauwetters unter Nikita Chruschtschow, als einige stalinistische Verbrechen thematisiert werden konnten, wurde die Erinnerung an den Holodomor vollständig unterdrückt – das zeigt, wie sehr dieses Thema tabuisiert war", sagt die an der Ludwig-Maximilians-Universität lehrende Osteuropahistorikerin Franziska Davies im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Erst im Zuge der von Michail Gorbatschow vorangetriebenen Glasnost und Perestroika Ende der Achtzigerjahre habe sich das geändert.
In der ukrainischen Geschichtswissenschaft nimmt der Holodomor seit der Unabhängigkeit 1991 eine zentrale Rolle ein. Erst mit der Wahl Wiktor Juschtschenkos zum ukrainischen Ministerpräsidenten 2004 habe eine "staatliche Agenda eingesetzt, mit der der Holodomor als der zentrale Erinnerungsort in der ukrainischen Geschichtspolitik gemacht wurde", sagt Davies. In die Regierungszeit Juschtschenkos fiel auch die Errichtung des nationalen Kiewer Museums zum Holodomor-Genozid. Juschtschenkos Geschichtspolitik sei innerhalb der Ukraine durchaus umstritten gewesen, sagt Davies. Heute seien jedoch die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer überzeugt, dass es sich beim Holodomor um einen Genozid gehandelt habe. Die "russische Totalinvasion" seit dem 24. Februar führe bei vielen Ukrainerinnen und Ukrainern zu einer Retraumatisierung: "Viele ziehen Parallelen zwischen dem Jetzt und Damals, gerade wenn es Berichte gibt über den Abtransport von Menschen, gestohlenes Getreide und die Zerstörung der Infrastruktur in der Ukraine. Wie zu Beginn der Dreißigerjahre soll die Lebensgrundlage der Menschen zerstört werden."
2006 stufte das ukrainische Parlament den Holodomor als Genozid am ukrainischen Volk ein. Die Leugnung des Holodomor als Völkermord steht seither unter Strafe.
Kritisch sieht Davies die Entwicklung des Genozids zum "Kampfbegriff". So gebe es "innerhalb der Ukraine bestimmte Akteure, die eine Opferkonkurrenz zum Holocaust herstellen" wollten und vom Holodomor etwa als "ukrainischem Holocaust" sprächen. Dabei sei klar: "Es gibt wichtige Unterschiede zwischen dem geplanten Massenmord der Nationalsozialisten an den Juden und der Hungersnot unter Stalin. Stalin ging es nie um die Gesamtauslöschung des ukrainischen Volkes."
Warum hat der Bundestag den Holodomor als Genozid eingestuft?
Die Abstimmung im Bundestag ging auf einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen der Ampel-Koalition sowie der Union zurück, der mit entsprechend großer Mehrheit angenommen wurde. 2019 war in einer Petition an den Bundestag schon einmal die Einstufung des Holodomor als Völkermord gefordert worden; darüber wurde jedoch nie abgestimmt. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gibt es nun einen neuen Anlauf.
In der Resolution der Parteien steht, der Holodomor reihe sich ein "in die Liste menschenverachtender Verbrechen totalitärer Systeme, in deren Zuge vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa Millionen Menschenleben ausgelöscht wurden". Der Deutsche Bundestag teile ausdrücklich eine Einordnung als Völkermord. Denn der massenhafte Hungertod sei "keine Folge von Missernten" gewesen, "sondern von der politischen Führung der Sowjetunion unter Josef Stalin verantwortet". Der Holodomor stelle damit ein Menschheitsverbrechen dar.
Gefordert wird in der Resolution von der Bundesregierung, die Erinnerung an die Opfer des Holodomor international zu unterstützen sowie "jeglichen Versuchen, einseitige russische historische Narrative zu lancieren", entgegenzuwirken.
Von der Bundestagsresolution geht also in erster Linie eine politische Botschaft aus – und ein Zeichen der Anerkennung des Leids der Ukrainerinnen und Ukrainer unter sowjetischer Herrschaft. Die Resolution hat aber auch praktische Auswirkungen: Erst im Oktober hatte die Bundesregierung den Volksverhetzungsparagrafen verschärft; die Billigung, Leugnung und Verharmlosung von Völkermorden und Kriegsverbrechen steht damit nun generell unter Strafe und kann mit Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren belegt werden.
Wie sehen Historikerinnen die Einstufung als Genozid?
Die Frage, ob der Holodomor als Genozid betrachtet werden sollte, ist unter Historikerinnen und Historikern umstritten. Konsens in der Wissenschaft ist, dass die Hungersnot von 1932/33 menschengemacht war – und die bolschewistische Führung um Stalin dafür verantwortlich.
Ob hinter dem Holodomor aber auch die Absicht Stalins steckte, die Ukraine als Nation zu vernichten, wie die ukrainische Regierung und die Mehrheit der ukrainischen Historikerinnen und Historiker argumentieren, ist strittig. Vor allem russische Forscher verweisen auf den Hunger als Folge der bolschewistischen Zwangskollektivierungen als gesamtsowjetisches Phänomen, das nicht allein die Ukraine betroffen habe, sondern unter anderem auch den Nordkaukasus und Kasachstan. Als Gegenargument zur Einstufung als Genozid wird außerdem angeführt, dass – anders als etwa im Falle des Holocaust mit dem Protokoll der Wannseekonferenz – keine Direktive dokumentiert ist, die Stalins Vernichtungsabsicht belegen würde.
Die Frage der Vernichtungsabsicht ist aber gemäß der UN-Völkermorddefinition maßgebend dafür, ob ein Verbrechen als Genozid eingestuft werden soll: Die "Konvention zur Verhinderung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermords" definiert Völkermord als Taten, die "mit der Absicht begangen wurden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche, ganz oder teilweise, zu zerstören".
Ob der Holodomor in diesem Sinne einen Genozid darstellt, wird auch in der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission unterschiedlich bewertet, wie aus einem Schreiben des Sprechers der deutschen Kommissionssektion, Martin Schulze-Wessel, an den Petitionsausschuss des Bundestags vom Januar dieses Jahres hervorgeht. Die Entscheidung darüber, "ob der Deutsche Bundestag Stellung zur Frage nehmen soll, ob es sich bei historischen Massenverbrechen und damit auch dem Holodomor um einen Genozid handelt, ist in erster Linie eine politische", heißt es darin.
Zu bedenken sei dabei, dass Deutschland bislang zu "zahlreichen, von Deutschland begangenen Massenverbrechen keine Anerkennung als Genozid ausgesprochen hat, obwohl es aufgrund der UN-Völkermorddefinition Gründe dafür gäbe". Es spreche deshalb viel dafür, "sich zuerst mit dem genozidalen Charakter der von Deutschland begangenen Massenverbrechen zu beschäftigen, bevor der Deutsche Bundestag den Holodomor, also ein sowjetisches Massenverbrechen, als Genozid anerkennt".
"Die Hungersnot war nicht geplant als Genozid an den Ukrainern", sagt die Osteuropahistorikerin Davies. Dennoch habe der Holodomor eine "antiukrainische Stoßrichtung" gehabt, die die Hungersnot in der Ukraine von jenen in anderen sowjetischen Regionen unterscheide. Lediglich in Kasachstan sei die Lage zumindest ähnlich gewesen. "Der ukrainische Nationalismus galt den Bolschewiki von Beginn an als Gefahr", und die Hungersnot sei von Stalin und der bolschewistischen Führung genutzt worden, "um den Ukrainern das nationale Rückgrat zu brechen". Auch die Tatsache, dass es parallel zum Hungertod der Millionen Bauern einen systematischen Angriff auf die ukrainische Intelligenzija gegeben habe, sei ein Argument dafür, "von genozidaler Gewalt zu sprechen". Davies verweist darauf, dass einige Historiker sich inzwischen für einen erweiterten Genozidbegriff aussprechen, der neben den in der UN-Definition genannten Bevölkerungsgruppen auch soziale Klassen umfasst: "Im Falle der Ukraine kam beides zusammen: Die Menschen wurden als Bauern und als Ukrainer ermordet", sagt Davies. Dafür spreche auch die Sichtweise des Begründers des Begriffs Genozid, Raphael Lemkin, auf den Holodomor: Dieser habe den Holodomor 1953 "als klassisches Beispiel eines sowjetischen Genozids" bezeichnet und sah darin den Höhepunkt einer längeren genozidalen Politik der Sowjetunion gegenüber dem ukrainischen Volk in der Tradition des russischen Zarenreichs.
(c) 2022, Die Zeit
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