top of page

»Es ist, als hätten wir nie existiert«

»Jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, wird erschossen«, verfügte Generalleutnant Lothar von Trotha 1904. Nun zeigen Recherchen, wie das Verbrechen bis heute fortwirkt – und sich Berlin vor Entschädigungen drückt.

[Bildarchiv der Deutschen Kolonialgesellschaft | Universitätsbibliothek Frankfurt am Main; University of Cape Town | Libraries; Forensic Architecture]


Der Schmerz kommt unvermittelt, sagt Kambanda Nokokure Veii. Er kommt, wenn sie mit dem Auto durch die Steppe Zentralnamibias fährt, vorbei an Bäumen, an denen deutsche Soldaten die Ahnen Veiis erhängten. Er kommt, wenn sie in der Hauptstadt Windhoek Landsleute mit heller Haut sieht, viele von ihnen Nachfahren von Vergewaltigungsopfern. Oder wenn sie, wie an diesem Nachmittag, am Rande der Omaheke-Wüste, eine der wenigen Gedenkstätten aufsucht, die an den Völkermord des deutschen Kaiserreichs an den Herero und Nama von 1904 bis 1908 erinnern.


Veii, 60 Jahre alt, eine pensionierte Englischlehrerin und Mitglied der Ovaherero Genozid Foundation aus Windhoek, steht vor einem Grab, das von Dornbüschen bedeckt ist. Einige ihrer Mitstreiter sind ebenfalls gekommen. Sie gehen in die Knie. Ein Mann rezitierte Verse in Otjiherero. Die anderen sprechen ihm nach. Veii stockt die Stimme. Sie wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. »Unser Leid wird bis heute nicht anerkannt«, sagt sie.

Mehr als ein Jahrhundert ist vergangen, seit sich die Herero und Nama gegen das deutsche Kolonialregime in Namibia, damals Deutsch-Südwestafrika, erhoben. Die Deutschen reagierten grausam.

Auf einem Hügel, unweit der Gedenkstätte, gab der damalige Oberkommandeur der sogenannten Schutztruppe, Generalleutnant Lothar von Trotha, seinen Soldaten am 2. Oktober 1904 den Befehl zur Vernichtung: »Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf.« Laut Schätzungen fielen zwischen 50.000 und 70.000 Menschen von Trotha und seinen Truppen zum Opfer.

So brutal das Verbrechen des Kaiserreichs an den Herero und Nama war, so wenig wird bis heute darüber gesprochen. Wenn sich die Deutschen an eigene Gräueltaten erinnern, dann zuvorderst an jene der Nazis. Die gewaltsame deutsche Kolonialherrschaft in Afrika und Asien, die in dem Genozid an den Herero und Nama gipfelte, findet in der Geschichtsschreibung nach wie vor kaum statt.


Dass der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts überhaupt international zu einem Thema wird, liegt vor allem an Menschen wie Kambanda Nokokure Veii.

Herero Veii: »Unser Leid wird bis heute nicht anerkannt« [Davies Samkange | Kanyanga Media | Der Spiegel]

Veii hat selbst erst spät und nur bruchstückhaft von den Verbrechen an ihrem Volk erfahren. Sie ist bei ihrer Urgroßmutter aufgewachsen, die die Kolonialherrschaft der Deutschen zwar selbst noch erlebt hat, über den Genozid jedoch aus Scham schwieg. Ihr Vater war ein Politiker, der sich gegen das südafrikanische Regime auflehnte, das Namibia nach den Deutschen bis 1990 regierte. Er wurde verhaftet und ins Gefängnis auf Robben Island gesperrt, wo er sich laut seiner Tochter mit Nelson Mandela anfreundete. Ihre Mutter floh ins Exil nach Großbritannien.


Wie so viele Namibier wurde Veii zunächst vor allem durch den Freiheitskampf politisiert. Erst nach der Unabhängigkeit begann sie sich für die Geschichte ihres eigenen Volkes, der Herero, zu interessieren. Je mehr sie über den Genozid las und je mehr sie den Geschichten von Nachfahren der Überlebenden lauschte, desto deutlicher sei ihr geworden, wie sehr dieses Verbrechen das Land bis heute präge, sagt sie.

Mit Gleichgesinnten gründete Veii ein Komitee, das Gedenkveranstaltungen zum 100. Jahrestag des Völkermords 2004 vorbereitete. Die damalige deutsche Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit, Heidemarie Wieczorek-Zeul, reiste nach Namibia, um sich als erste deutsche Regierungspolitikerin für die deutschen Gräueltaten zu entschuldigen. Kurz darauf brachten Veii und ihre Mitstreiterinnen einen Antrag ins Parlament in Windhoek ein, in dem sie eine Aufarbeitung des Genozids forderten.


Es brauchte weitere zehn Jahre, ehe der Dialog zwischen Deutschland und Namibia über die gemeinsame Geschichte wirklich in Gang kam. 2015 nahmen Deutschland und Namibia Gespräche auf, die im Sommer 2021 schließlich zur Einigung auf ein sogenanntes Versöhnungsabkommen führten.

Historische Aufnahme einer Herero-Siedlung: Die gewaltsame deutsche Kolonialherrschaft findet in der Geschichtsschreibung kaum statt [Bildarchiv der Deutschen Kolonialgesellschaft | Universitätsbibliothek Frankfurt am Main]

In dem Abkommen erkennt die Bundesrepublik den Völkermord an den Nama und Herero erstmals offiziell an, wenn auch nur im historischen, nicht im völkerrechtlichen Sinn. Berlin verpflichtet sich zudem, in den kommenden 30 Jahren insgesamt 1,1 Milliarden Euro Entwicklungshilfe an Namibia zu zahlen.


Deutsche Politikerinnen und Politiker sprechen von einem geschichtsträchtigen Schritt. In Namibia selbst sorgt das Abkommen hingegen für Empörung. Insbesondere die Herero und Nama fühlen sich übergangen. Im Parlament in Windhoek ist die Unzufriedenheit über das Verhandlungsergebnis derart groß, dass die Abgeordneten das Abkommen bis heute nicht ratifiziert haben. Namibische Regierungspolitiker wollen nun nachverhandeln. Der Versuch Deutschlands, die eigenen Kolonialverbrechen aufzuarbeiten, hat, so scheint es, neue Wunden aufgerissen – statt alte zu schließen.

Wie ein Mahnmal ragt der Waterberg aus der Steppe in Zentralnamibia. Seine Zinnen glühen rötlich im Morgenlicht. Gerson Kaapehi empfängt in einer Lodge am Fuße des Berges zum Gespräch.


Kaapehi, 65 Jahre alt, hat als Historiker einen Großteil seines Lebens damit verbracht, die Geschichten der Herero zusammenzutragen. Er kann jedes einzelne Gefecht im Krieg zwischen dem Kaiserreich und den Herero und Nama benennen, kann nachzeichnen, wo sich die Soldaten gegenüberstanden.


Am Waterberg kam es im August 1904 zu einer folgenreichen Schlacht, an dessen Ende die deutschen »Schutztruppen« die Herero in die Omaheke-Wüste trieben. Oberkommandeur von Trotha ließ die Zugänge zur Wüste teilweise abriegeln und Wasserstellen blockieren. Tausende Menschen verhungerten und verdursteten.

Die Lodge am Waterberg diente den deutschen Kolonialherren als Gefängnis, während des Kriegs schlug von Trotha hier sein Lager auf. Doch obwohl das Gebäude inzwischen dem namibischen Staat gehört, erinnert nichts an seine Geschichte. Kein Schild weist die Touristinnen und Touristen auf die Verbrechen hin, die hier begangen wurden, kein Mahnmal gedenkt der Opfer. Stattdessen hängt im Speisesaal noch immer ein Porträt von Kaiser Wilhelm II. an der Wand. »Es ist, als hätten wir Herero nie existiert«, sagt Historiker Kaapehi.


Die Herero und Nama bildeten vor dem Völkermord die Mehrheit in Namibia. Heute stellen sie weniger als ein Zehntel der 2,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger. In der Regierung sind sie kaum vertreten. Für Präsident Hage Geingob spielt die Erinnerung an den Genozid in der Wahrnehmung der Betroffenen keine große Rolle. Für ihn und seine Partei beginnt die Geschichte Namibias so richtig erst mit dem Unabhängigkeitskampf gegen die südafrikanischen Besatzer.

Historische Aufnahme vom Waterberg: So brutal das Verbrechen war, so wenig wird bis heute darüber gesprochen [Bildarchiv der Deutschen Kolonialgesellschaft | Universitätsbibliothek Frankfurt am Main]

Es ist deshalb umso verwunderlicher, dass die Bundesregierung das »Versöhnungsabkommen« mit der Regierung in Windhoek ausgehandelt hat, ohne die wichtigsten Repräsentantinnen und Repräsentanten der Herero und Nama miteinzubeziehen.


Über die Reparationen nach dem Zweiten Weltkrieg habe Deutschland sowohl mit dem Staat Israel als auch mit jüdischen Gemeinden weltweit gesprochen, sagt Wolfgang Kaleck, Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin, der die Aufarbeitung des Genozids an den Herero und Nama in Deutschland maßgeblich vorantreibt. »In Namibia hingegen wurde entgegen internationalem Recht über die Köpfe der betroffenen Gruppen hinweg entschieden. Wichtige Themen wie die sexualisierte Gewalt der Deutschen und der Raub der fruchtbaren Länder wurden ausgeklammert.« Selbst die Uno hat Deutschland für den Prozess gerügt.


Die Bundesregierung verweist auf Nachfrage darauf, dass Verhandlungspartner nur die »demokratisch legitimierte« namibische Regierung sein könne, Vertreter der Opfergemeinschaften jedoch »am Dialog beteiligt« seien.


Beobachterinnen und Beobachter in Namibia vermuten, dass Berlin die Herero und Nama in den Verhandlungen absichtlich außen vor gelassen habe, weil man sich unangenehmen Fragen, etwa nach der Verteilung von Land, nicht wirklich stellen wollte. »Die Deutschen wollen keine Verantwortung für ihre Kolonialverbrechen übernehmen«, sagt Historiker Kaapehi. »Sie wollen einfach nur einen Schlussstrich ziehen.«

»Das Abkommen bot die Chance, historische Gerechtigkeit zu schaffen. Leider wurde diese Chance vertan.« -- Mutjinde Katjiua, Paramount Chief der Ovaherero Traditional Authority (OTA)

Dabei wirkt das koloniale Erbe in Namibia bis heute fort. Augustinus Muesee bekommt die ökonomische Ungleichheit jedes Mal dann zu spüren, wenn er nach Weideplätzen für seine Rinder sucht. Die Steppe am Rande der Omaheke-Wüste ist abgegrast. Dürren haben dazu geführt, dass sich in der Region kaum noch Nahrung für das Vieh findet. »Ich weiß nicht, wie lange wir hier noch von der Landwirtschaft leben können«, sagt Muesee.


Einst besaßen Muesees Vorfahren fruchtbare Ländereien bei Windhoek. Während des Genozids jedoch seien sie vertrieben worden. Ihren Besitz hätten sich die Deutschen angeeignet. Heute muss Muesee froh sein, dass er einige Hektar Boden mitbenutzen darf, die der Staat ihm und anderen Herero in einer Art von Reservat in Zentralnamibia zur Verfügung stellt.


Wie so viele Herero fordert auch Muesee, dass das Land in Namibia gerechter verteilt wird. Er will nicht, dass weiße Farmer enteignet werden, wie das in Simbabwe der Fall war. Aber er möchte, dass der Staat Land aufkauft, um es Nachkommen der Genozid-Opfer zurückzugeben, etwa mit Mitteln aus Deutschland. »Es muss einen Ausgleich geben für das Unheil, das wir erlitten haben«, sagt er.

Farmer Muesee: »Es muss einen Ausgleich geben« [Maximilian Popp | Der Spiegel]

Im Koalitionsvertrag der Ampelparteien heißt es, die Aussöhnung mit Namibia bleibe »eine unverzichtbare Aufgabe, die aus unserer historischen und moralischen Verantwortung erwächst.« In Berlin scheint jedoch niemand bereit, das umstrittene »Versöhnungsabkommen« zu überarbeiten – und dass, obwohl die Grünen selbst vor der Wahl noch Kritik an der Übereinkunft geübt haben. »Die Gemeinsame Erklärung ist aus Sicht der Bundesregierung ausverhandelt«, teilt das Auswärtige Amt auf eine Kleine Anfrage der Linken mit.


Der oberste außerparlamentarische Herero-Vertreter, Mutjinde Katjiua, kann seine Wut nur schwer verbergen, wenn er nach dem Deal mit den Deutschen gefragt wird. Frankreich, Belgien, Portugal – sämtliche ehemaligen europäischen Kolonialmächte würden die Verhandlungen zwischen Berlin und Windhoek sehr genau verfolgen, sagt er. »Das Abkommen bot die Chance, historische Gerechtigkeit zu schaffen. Leider wurde diese Chance vertan.«


Katjiua, 55 Jahre alt, von Beruf Dozent für Landfragen, ist seit diesem Jahr Paramount Chief der Ovaherero Traditional Authority (OTA), der traditionellen Selbstverwaltung der Herero. Er ist ein unprätentiöser Mann mit Lederhut, Cordjackett, randloser Brille. Anders als sein Vorgänger empfängt er nicht auf seinem eigenen Anwesen zum Gespräch, sondern wartet in einem Café auf der Independence Avenue in Windhoek. Doch wie die anderen OTA-Vertreter auch fühlt er sich von den Deutschen verhöhnt. »Berlin hat es nicht für nötig gehalten, auch nur ein einziges Mal mit uns zu sprechen«, sagt er.


Wenn die Deutschen es mit dem Wunsch nach Versöhnung ernst meinten, dann, so Katjiua, kämen sie nicht daran vorbei, das Abkommen noch einmal neu zu verhandeln. Die 1,1 Milliarden Euro, die die Bundesregierung Windhoek als Entschädigungen über die kommenden 30 Jahre geboten habe, seien zu wenig, denn das sei weniger als jene Summe, die Deutschland Namibia seit 1990 ohnehin an Entwicklungshilfe bezahlt habe.


Wichtiger als Geld ist Katjiua jedoch die symbolische Anerkennung für das erfahrene Unrecht. »Warum investiert Berlin nicht in ein Dokumentationszentrum in Namibia, ähnlich jenem von Yad Vashem?«, fragt er. »Warum vergibt Deutschland nicht mehr Visa an namibische Studenten und Berufstätige, damit der Austausch gefördert wird?« Katjiua fasst seine Forderung an die Deutschen in einem Satz zusammen: »Hört uns zu.«

 

(c) 2022, Der Spiegel

https://www.spiegel.de/ausland/namibia-wie-deutsche-siedler-vom-voelkermord-profitierten-a-7ac7f948-cd5c-48c3-8036-5f7dd035e90d




Commentaires


Featured Review
Tag Cloud
bottom of page