Kein Lächeln für einen Diktator
Europas neuer Energiepartner Aserbaidschan soll Kriegsverbrechen im Kaukasus begangen haben. Die EU muss Haltung zeigen, sonst schadet sie sich selbst.
Es gibt Momente, da ist Schweigen gefährlicher als Sprechen. In solchen Momenten kann selbst eine kleine Geste dramatische Konsequenzenhaben. Genau so eine Geste konnte man am Wochenende beobachten. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission und damit die mächtigste Frau in der EU, saß auf einer Energiekonferenz in Bulgarien. Neben ihr Ilcham Alijew, der Diktator von Aserbaidschan. Der serbische Präsident Aleksandar Vučić hielt eine Rede. An Alijew gewandt sagte er: "Ich sehe, mein lieber Freund, Sie sind sehr beliebt in Europa geworden." Der aserbaidschanische Diktator lachte laut – und die EU-Kommissionspräsidentin lächelte.
Was in anderen Zeiten eine harmlose Szene gewesen wäre, ist es in diesen Zeiten ganz und gar nicht. Denn der Mann, mit dem von der Leyen dort auf der Bühne fröhlich zusammensaß, hat vor drei Wochen mit seiner Armee das Nachbarland Armenien überfallen. Zwar herrscht nun wieder Waffenstillstand, doch Aserbaidschan hält noch immer einen Teil des armenischen Staatsgebiets besetzt. Gemeinsam mit dem engen Verbündeten Türkei macht das Land Andeutungen, erneut angreifen und noch mehr Gebiete besetzen zu wollen.
Schon in den wenigen Tagen des Angriffs sollen aserbaidschanische Soldaten schwere Kriegsverbrechenbegangen haben: In Videos, die sie selbst auf Telegram veröffentlicht haben sollen, ist unter anderem zu sehen, wie armenische Gefangene vergewaltigt, verstümmelt, ermordet und ihre Leichen geschändet werden. Eines dieser Opfer war die 36-jährige armenische Soldatin Anush Apetyan, Mutter von drei Kindern, 16, 15 und vier Jahre alt. Was man ihr angetan hat, ist so brutal, dass Leserinnen und Leser, die solche Schilderungen nicht ertragen, besser die nächsten zwei Sätze überspringen sollten. Anush Apetyan wurde vergewaltigt, ihr wurden die Finger abgeschnitten und in ihren Mund gesteckt. Die Soldaten drückten ihre Augen aus den Höhlen und stopften Steine hinein.
Ein anderes Video wurde ausgerechnet an dem Tag veröffentlicht, als Ursula von der Leyen sich auf das Podium neben Ilcham Alijew setzte. Armenische Kriegsgefangene knien am Boden, haben sich mit erhobenen Händen ergeben. Soldaten erschießen sie, aus nächster Nähe und jubelnd. Ein Kriegsverbrechen, wie es eindeutiger kaum sein könnte. Die Echtheit der Videos muss noch von unabhängigen Stellen bestätigt werden. Aber schon 2020, im Krieg um Bergkarabach, wurden ähnliche Kriegsverbrechen aserbaidschanischer Soldaten zweifelsfrei nachgewiesen.
Natürlich ist es kein Zufall, dass von der Leyen selbst in dieser Lage nun mit Alijew in die Kamera lacht, so wie eben nichts in der Diplomatie ein Zufall ist. Aserbaidschan soll bald ein wichtiger Gaslieferant für Europawerden, das haben die beiden erst Ende Juli unterzeichnet. Das aserbaidschanische Gas soll dann helfen, das russische Gas zu ersetzen, auf das Europa verzichten will, seit Wladimir Putin die Ukraine angegriffen hat.
Von der Leyen nannte Alijew damals in einem Tweet "einen vertrauenswürdigen Partner". Das war nur wenige Monate vor dem Überfall auf Armenien. Man könnte auch sagen: Kurz bevor Aserbaidschan sich, gestärkt von der EU, mächtig genug fühlte, sein Nachbarland anzugreifen.
(c) 2022, Die Zeit
https://www.zeit.de/politik/2022-10/aserbaidschan-eu-armenien-kriegsverbrechen-energiepolitik
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