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Katja Iken, Der Spiegel

War der Holodomor ein Völkermord?

Stalins Politik führte zum Hungertod von Millionen Ukrainern. Am Mittwoch will der Bundestag dieses Verbrechen als Genozid verurteilen. Historikerin Tanja Penter sagt: Das Zeichen ist ebenso wichtig wie problematisch.

Gedenken an die Toten des Hungerterrors: Eine Frau legt Blumen am Denkmal für den Holodomor in Kiew nieder [Sergei Chuzavkov | AFP]

Der Bundestag will am Mittwoch den Holodomor in der Ukraine als Völkermord anerkennen, die Hungersnot unter der Regierung von Stalin in den Jahren 1932/33. Was bedeutet Holodomor?

Penter: Wörtlich übersetzt bedeutet der ukrainische Begriff etwa »Tötung durch Hunger«. Die wichtigste Ursache der Hungersnot lag in der brutalen Politik der staatlichen Getreiderequisitionen, die mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft einherging. Diktator Stalin wollte die Sowjetunion durch forcierte Industrialisierung, Zwangskollektivierung und die Verfolgung von vermeintlichen Feinden in einen modernen Industriestaat verwandeln und die eigene Macht festigen. Hunderttausende von sogenannten »Kulaken«, darunter nicht nur wohlhabendere Bauern, sondern alle, die Widerstand gegen die Kollektivierung leisteten, wurden in entlegene Gebiete Sibiriens und Zentralasiens zwangsverschleppt.


SPIEGEL: Der Tod unzähliger Menschen wurde billigend in Kauf genommen, Schätzungen zufolge fielen etwa 3,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer der Hungersnot zum Opfer. Ampel und Union haben nun einen Antrag in den Bundestag eingebracht. Im Wortlaut heißt es: »Damit liegt aus heutiger Perspektive eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe.« Warum soll der Holodomor ausgerechnet jetzt als Völkermord anerkannt werden?

Unvorstellbares Leid: Schätzungen zufolge kamen während des Holodomors 3,5 Millionen Ukrainer ums Leben [Pictures from History | ullstein bild]

Penter: Die Politik möchte in der aktuellen Situation ein Zeichen der Solidarität mit dem ukrainischen Volk setzen und zudem in Deutschland die Erinnerung an die Opfer der Hungersnot befördern. Es scheint endlich einen breiten Konsens dafür zu geben, dass man dieses schreckliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit stärker würdigen muss.


SPIEGEL: Genozid ist laut Uno-Konvention vom 9. Dezember 1948 ein Akt, der »mit der Absicht begangen wurden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche, ganz oder teilweise, zu zerstören«. Allerdings war Stalins Hungerterror nicht ausschließlich gegen die ethnische Gruppe der Ukrainer gerichtet. Es kamen Tausende andere Menschen um, darunter etwa 1,5 Millionen Kasachen.


Penter: Das entsprach mehr als einem Drittel der kasachischen Bevölkerung. Insofern waren die Menschenverluste in Kasachstan, gemessen an der Einwohnerzahl, sogar noch größer als in der Ukraine. Auch in Russland selbst starben Hunderttausende Menschen. Allerdings ist die Hungersnot dort in der Erinnerungskultur vollkommen anders verankert – nicht als Verbrechen Stalins, sondern als eine Art Kollateralschaden bei der Industrialisierung des Landes , die sich später als entscheidend erwies, um im Zweiten Weltkrieg den Sieg gegen NS-Deutschland zu erringen.


SPIEGEL: Zudem ist in den Archiven bislang kein direkter Erlass gefunden worden, der besagt, dass Stalin tatsächlich befahl, die Gruppe der Ukrainer zu vernichten.


Penter: Ja, die Frage der Vernichtungsintention Stalins ist noch nicht abschließend geklärt. Es ist umstritten, ob sich Stalins gezielte Hungerpolitik gegen die soziale Gruppe der Bauern richtete, deren Widerstand gegen die Kollektivierung in der Ukraine besonders groß war, oder gegen die gesamte ukrainische Nation. Für letztere Deutung spricht, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer insgesamt die weitaus größte Zahl an Opfern zu beklagen hatten und die Hungerkatastrophe einherging mit massiven Säuberungen und Repressionen gegen die nationalen ukrainischen Eliten.

»Überall Verfolgung. Überall Terror. Ein Mann, den wir kannten, sagte: Mein Bruder starb, aber er liegt immer noch da«: So beschrieb der Journalist Garreth Jones den Holodomor (1932/33) [ITAR-TASS | IMAGO]

SPIEGEL: War der Holodomor denn nun ein Völkermord?


Penter: Zumindest nicht unbedingt nach der streng juristischen Definition von 1948. Deshalb ist auch die Historikerzunft in dieser Frage gespalten. Fest steht aber: Es handelte sich nicht um eine natürliche Hungerkatastrophe, sondern um eine menschengemachte Hungersnot, die eine unmittelbare Folge von Stalins Politik war. Dörfer, die ihr Abgabesoll nicht erfüllten, wurden auf »schwarze Listen« gesetzt, vollständig von sämtlichen Warenlieferungen abgeschnitten und dem Verhungern ausgeliefert. Der Holodomor war zweifellos ein barbarisches Menschheitsverbrechen.


SPIEGEL: Aber jetzt geht es um die Frage, ob er ein Genozid war.


Penter: Man muss berücksichtigen, dass die Uno-Konvention von 1948 ein Kind ihrer Zeit war – das Ergebnis divergierender politischer Interessen. Nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs setzten es sich die Vereinten Nationen zum Ziel, das Verbrechen des Völkermords in der ganzen Welt zukünftig zu verhindern und zu bestrafen. Der daraus resultierende Vertrag über die UN-Völkermordkonvention entstand jedoch inmitten der Spannungen des Kalten Krieges und der ideologischen Kämpfe zwischen der Sowjetunion und dem Westen. Dem Kreml ging es, wie neuere Forschungen argumentiert haben, vor allem darum, politisch Verfolgte und den Gulag , das riesige System von Zwangsarbeitslagern, aus dem Völkermorddiskurs herauszuhalten.


SPIEGEL: Und die amerikanische Seite?


Penter: Die USA wollten verhindern, dass die Konvention Formulierungen enthielt, die gegen die Vereinigten Staaten verwendet werden könnten, zum Beispiel in Bezug auf die Situation der Afroamerikaner. Sie ratifizierten die Konvention erst 1988. Beide Supermächte nutzten die Konvention und den Völkermorddiskurs, um ihre Rivalität im Kalten Krieg auszutragen, wobei sie das Potenzial der Konvention als Instrument des internationalen Strafrechts schwächten. Insofern ist es möglicherweise an der Zeit, die juristische Definition zu überdenken und zu erweitern. Eine wissenschaftliche Debatte darüber gibt es seit den Neunzigerjahren. Andererseits muss man anerkennen, dass die Genozid-Konvention einen Meilenstein bei der Entwicklung einer internationalen Menschenrechtsgesetzgebung und eine der Grundfesten unserer über weite Strecken friedlichen Nachkriegsordnung darstellte.

»Die Politik möchte in der aktuellen Situation ein Zeichen der Solidarität mit dem ukrainischen Volk setzen.«

SPIEGEL: 2019 wurde das Thema Holodomor schon einmal im Bundestag verhandelt. Damals riet das Auswärtige Amt davon ab, den Hungerterror als Genozid anzuerkennen. Die Bundesregierung mache es sich nicht zu eigen, »dass Ereignisse, die vor 1948 stattgefunden haben, völkerrechtlich als Genozid bezeichnet werden können«, so der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD) damals.


Penter: Auch das Europäische Parlament erkannte den Holodomor 2008 zwar als »schreckliches Verbrechen am ukrainischen Volk und gegen die Menschlichkeit« an, vermied aber die Bezeichnung als »Völkermord« – anders als etwa die USA, Australien, Kanada, Mexiko, Portugal, Polen, Ungarn und mehrere weitere Staaten.


SPIEGEL: Wie ist das Argument zu verstehen, dass man Ereignisse vor 1948 nicht als Völkermord bezeichnen will – über den Holocaust gibt es doch keine Diskussionen, der ist doch als Völkermord anerkannt?

Liste des Schreckens: Ein Mädchen steht in Kiew vor der Mauer der Orte, in denen Ukrainerinnen und Ukrainer unter dem Holodomor litten [Gleb Garanich | Reuters]

Penter: Das ist eine Frage für Juristen. Als Historikerin kann ich sagen, dass die Uno-Völkermordkonvention ja unter dem Eindruck der schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten, insbesondere des Holocaust entstand. Erstmals tauchte der Genozid-Begriff 1944 im Buch "Axis Rule in Occupied Europe" seines intellektuellen Schöpfers, des polnisch-jüdischen Juristen Raphal Lemkin, auf. Allerdings hatte Lemkin das Konzept des Genozids nach eigenen Aussagen bereits in den 1930er-Jahren für das Beispiel des Massenmords an den Armeniern entwickelt.


SPIEGEL: Wollte es sich Deutschland 2019 schlicht nicht mit Putin verscherzen? Immerhin erkannten wir noch drei Jahre zuvor, im Juli 2016, die Massentötung der Armenier im Osmanischen Reich 1915 eindeutig als Völkermord an. Und das, obwohl auch dieses Verbrechen zeitlich gesehen weit vor der Uno-Konvention von 1948 stattgefunden hatte.


Penter: Bei der gezielten Vernichtung und Deportation der Armenier im Osmanischen Reich herrscht in der historischen Forschung ein weitgehender Konsens darüber, dass wir es hier mit einem geplanten und systematischen Völkermord zu tun haben. Zudem wird hier auch eine historische Mitverantwortung des Deutschen Reichs gesehen, das als Verbündeter des Osmanischen Reichs trotz Kenntnis über die Verbrechen nichts zu ihrer Verhinderung unternommen hatte. Beim Holodomor ist die Situation etwas anders. Und natürlich haben Sie recht, dass solche Entscheidungen immer auch politisch motiviert sind. Das sehen wir auch bei dem aktuellen Antrag, der mit der Würdigung der historischen Hungerkatastrophe zugleich ein Zeichen gegen Putins aktuellen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine setzen möchte. Als Historikerin halte ich dies für eine etwas unglückliche Verflechtung separater historischer Kontexte.


SPIEGEL: Beim Thema Namibia wiederum war Deutschland jahrelang sehr zögerlich: Erst 2021 einigte man sich auf die Formel, die Gewalttaten gegen die Herero und Nama in der damaligen deutschen Kolonie Südwest-Afrika als »Völkermord aus heutiger Sicht« zu verurteilen.


Penter: Gleichzeitig hielt man aber daran fest, dass sich daraus keine Rechtsfolgen ergeben sollten, und lehnte individuelle Entschädigungszahlungen für die Nachfahren der Opfer ab. Hier spielten neben politischen also auch finanzielle Gründe eine Rolle. Grundsätzlich müssen wir feststellen, dass der Genozid-Begriff angesichts seiner zunehmenden politischen Aufladung, die wir in den letzten Jahren beobachten, als analytisches Konzept in der Wissenschaft wohl bald ausgedient hat.


SPIEGEL: Wie bewerten Sie nun die Thematisierung des Holodomor im Bundestag?


Penter: Einerseits freue ich mich darüber, dass der Holodomor endlich die Aufmerksamkeit und Würdigung in unserer europäischen Erinnerungskultur bekommt, die ein Menschheitsverbrechen dieses Ausmaßes verdient – das war seit Langem überfällig. Andererseits erweist man einer differenzierten Geschichtswissenschaft mit der Verwässerung des Völkermord-Begriffs möglicherweise einen Bärendienst und läuft zudem Gefahr, Opferkonkurrenzen zu befördern. Der aktuelle Antrag verweist allerdings explizit – vermutlich, um entsprechender Kritik vorzubeugen und einen breiten gesellschaftlichen Konsens zu erzielen – auch auf die historische Singularität des Holocaust.


SPIEGEL: Wem ist damit geholfen, wenn Deutschland den Holodomor als Völkermord anerkennt? Welche Wirkung kann eine solche Symbolpolitik in der Ukraine entfalten?


Penter: Wir dürfen nicht unterschätzen, dass die moralische Wirkung durchaus groß sein dürfte. Ich kenne viele Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich darüber sehr freuen würden. Gleichzeitig hilft es den Menschen in der Ukraine angesichts der durch brutale russische Angriffe zerstörten zivilen Infrastruktur nicht über den Winter – da braucht es gerade jetzt verstärkt konkrete Formen der Unterstützung jenseits der großen Worte.

 

(c) 2022, Der Spiegel

https://www.spiegel.de/geschichte/stalins-hungerterror-in-der-ukraine-war-der-holodomor-ein-voelkermord-a-9d2139eb-d5a3-456d-83f1-f229dd749efd

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